Initiative „No Covid“ von Prof. Matthias Schneider ruft großes Medienecho hervor
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Prof. Schneider, warum ist es entscheidend, die Infektionszahlen jetzt schnell und möglichst weit zu senken?
Kleine Zahlen sind aus jeder Perspektive am besten: gesundheitlich, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Warum das nicht von Anfang an klar kommuniziert wurde, weiß ich nicht – aber es ist keine neue Erkenntnis: Wenn ein potenziell großes Risiko vor einem liegt, wartet man nicht ab, sondern handelt proaktiv. Zu Beginn wurde etwa viel über einen vermeintlichen Zielkonflikt zwischen Wirtschaft und Gesundheit gesprochen. Doch nicht einmal der konservativere Flügel in der Ökonomie sieht das so. Leidet das Gesundheitswesen und sind die Menschen verunsichert, dann leidet auch die Wirtschaft. Planbarkeit und Handlungsfähigkeit sind essenziell, auch für Familien. Unser Familienexperte in der Runde, Menno Baumann, kann belegen, dass es in erster Linie das Ungewisse ist, das zu Stress bei Eltern und Kindern führt. Immer wieder Quarantäne, unerwartete Veränderungen, Schulschließungen – das ist das Problem. Einen Lockdown sollte man daher richtigmachen, damit man ihn nur einmal machen muss.
Wie macht man einen Lockdown aus Ihrer Sicht richtig?
Ein Lockdown und dessen Lockerung sollte nicht einfach an ein beliebiges Datum geknüpft sein. Das ist noch unlogischer als zu sagen, ein Alkoholverbot im Straßenverkehr gelte nur von 12 bis 18 Uhr. Die Lockerungen müssen stattdessen von dem Erreichen eines Ziels abhängen – zum Beispiel sollten die Neuinfektionen mit unbekannter Ansteckungsquelle wöchentlich unter 10 pro 100.000 Einwohnern liegen. Der Inzidenzwert darf durchaus höher sein, da Menschen in Quarantäne nicht zu weiteren Ansteckungen beitragen. Ist eine Beendigung des Lockdowns an diese Bedingung geknüpft, erhöht das auch die Motivation der Menschen, sich an die geltenden Regeln zu halten. Die Gesellschaft holt sich die Kontrolle zurück und lässt sich nicht vom Virus dominieren. Dass dies funktioniert, haben viele Länder gezeigt, beispielsweise Australien – im Übrigen eine Demokratie mit ähnlich föderalen Strukturen wie Deutschland und Metropolen größer als München. Dort haben Restaurants und Fitnessstudios längst wieder geöffnet, sogar Konzertbesuche sind wieder möglich. Auch in Deutschland können wir dies noch erreichen, wir müssen aber schnell handeln, bevor die deutlich ansteckenderen Mutationen sich weiter ausbreiten und die Pandemie immer weiter außer Kontrolle gerät.
Wie sähe eine No-Covid-Strategie nach dem Vorbild Australiens aus?
Im Prinzip kann man sich das an Deutschland anschauen: Der Lockdown letztes Frühjahr war völlig ausreichend, die Zahlen sind stark gesunken, aber es gab keine Strategie für die Zeit danach. Das soll jetzt anders laufen. Dieser Lockdown muss sich lohnen. Damit die Menschen sich konsequent an die Regeln halten, ist es wichtig, dass von der Politik ganz klar kommuniziert wird, welches Ziel verfolgt wird und wie die langfristige Strategie dafür aussieht. Es geht uns gar nicht um einen Mega-Lockdown mit Grenz- und Firmenschließungen, bis die Null erreicht ist. Die Idee unseres Green-Zone-Modells ist es vielmehr, möglichst schnell wieder lokal öffnen zu können.
Wie genau funktioniert dieses Zonen-Modell?
Gebiete, in denen es wenige Wochen lang keine Neuinfektionen gibt, werden zu grünen Zonen erklärt. Hier können die Menschen zur Quasi-Normalität zurückkehren, auch wenn der Rest des Landes noch nicht so weit ist. Dort, wo es noch Ansteckungen gibt, bleiben strenge Beschränkungen bestehen, um die grünen Zonen zu schützen. Verkehr über Zonen hinweg ist dann erlaubt, wenn er essenziell ist, zum Beispiel aus beruflichen Gründen. Allerdings müssen – zum Schutze der virusfreien grünen Zone – besondere Vorsichtsmaßnahmen berücksichtigt werden. Bemühungen der Industrie, die Mobilität ihrer Beschäftigten für ein paar Wochen einzuschränken, sollten ermutigt und unter Umständen sogar subventioniert werden. Hieraus ergibt sich auch ein Wettbewerb zwischen den Regionen, der ein zusätzlicher Ansporn ist, die Null zu erreichen. Die Vier-Millionen-Metropole Melbourne hat dafür gerade einmal rund vier Wochen gebraucht.
Macht es nicht einen Unterschied, dass Deutschland anders als Australien und Neuseeland keine Insel ist?
Ehrlich gesagt stehen mir bei diesem Argument nicht nur als Physiker die Haare zu Berge: Der Mond ist auch kein Apfel, aber trotzdem folgen beide denselben Naturgesetzen. Das Modell kann in der Praxis sehr vielschichtig angewendet werden, daher funktioniert es in so vielen verschiedenen Gebieten, zum Beispiel in China, Taiwan und Singapur. Natürlich gibt es Unterschiede, aber Thüringen ist auch nicht Bayern. Man muss offen sein, von anderen zu lernen – und das schnell. Deswegen habe ich zum Beispiel auch die Verantwortlichen in Australien und Neuseeland zu ihrer Strategie befragt.
Warum spielt Kommunikation in der Pandemie so eine wichtige Rolle?
Die Bürgerinnen und Bürger müssen miteinbezogen werden. Das unterstreichen in unserer Runde auch die Politikwissenschaftlerin Elvira Rosert und der Politikwissenschaftler Maximilian Mayer ebenso wie Stephen Ducket und Michael Baker, die die Regierungen von Australien und Neuseeland in der Pandemie beraten. Es wird Menschen motivieren, sich an die Regeln zu halten, wenn ein klares Ziel und eine langfristige Strategie offen kommuniziert werden. Dies war in Australien der Fall. Dort konnten die Infektionsfälle sogar schneller als angenommen gesenkt werden, weil sich sehr viele Menschen an die Regeln gehalten haben, um möglichst bald von den Lockerungen zu profitieren. In Deutschland werden aktuell nur vage Pläne und Durchhalteparolen kommuniziert, die zu Ungewissheit führen und im schlechtesten Fall das Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen zerstören. Verständlicherweise drängen viele Geschäftsleute auf eine baldige Beendigung des Lockdowns. Es nutzt jedoch nichts, wenn man durch eine verfrühte Öffnung einige Geschäfte retten kann, dies aber einen neuen Lockdown verursacht, bei dem dann umso mehr Geschäfte aufgeben müssen. Mit dem No-Covid-Plan eröffnen wir stattdessen Planungssicherheit und Perspektive, was am Ende allen nützt. Das Anliegen von No Covid ist es nicht, die Freiheit jedes Einzelnen zu beschränken, sondern im Gegenteil, Freiheit schnell und nachhaltig wieder zu ermöglichen. Wir müssen das Virus so weit wie möglich proaktiv kontrollieren und dürfen nicht – wie im bisherigen reaktiven Verhalten – davon kontrolliert werden.
War das Ihre Motivation für No Covid?
Ja, es schien mir im letzten Frühjahr alles so klar: Kleine Zahlen erreichen, dann alle kleinen Restfeuer über den Sommer löschen und gut ist. Stattdessen ging plötzlich das Gerede ‚Wir müssen uns an das Virus gewöhnen‘ los. Ein inhaltsleerer und gefährlicher Satz. Stellen Sie sich vor, jemand sagt ‚Wir müssen uns an die Verkehrstoten, verhungerten Kinder oder Krebskranken gewöhnen‘. Nein, das müssen wir nicht, das dürfen wir nicht! Auch dort gilt: je weniger desto besser und wenn möglich die Null. Es gibt ja eigentlich nur zwei Wege mit dem Virus umzugehen: Entweder man lässt es eine Bevölkerung durchlaufen oder man drängt es radikal zurück. Meiner Ansicht nach kann kein Mensch ehrlich behaupten, dass Durchlaufen eine Option wäre. Man sollte sich die goldene Regel ins Gedächtnis rufen: Wenn ich mal zur Risikogruppe gehöre, wird mich die Gesellschaft hoffentlich nicht als ‚verzichtbar‘ betrachten.
Und wie kam es letztlich zu Ihrer Initiative und dem Strategiepapier?
Auslöser war mein Artikel letzten September in der ZEIT über die physikalischen Gesetze einer Pandemie. Daraufhin kam es zum Austausch mit anderen besorgten Bürgerinnen und Bürgern und zu der Idee, das Gespräch mit Yaneer Bar-Yam, dem Pionier der Green-Zone-Methode, und dem australischen Gesundheitsökonomen Stephen Ducket zu suchen. Das hat wiederum die Virologin Melanie Brinkmann und den Mediziner Michael Hallek an Bord gebracht. Über die beiden sind dann viele weitere angesehene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazugestoßen. Wir sind eine bunt gemischte Truppe, eine Art Think Tank, und wir sind vor allem unabhängig – so wie es laut Einstein sein sollte. Nach vielen schlaflosen Nächten – die übrigens anhalten – haben wir nur sechs Tage nach unserem ersten Treffen das Strategiepapier veröffentlicht und die Medien haben sofort darüber berichtet. Die Dynamik war irre, der Weg nicht vorhersehbar, aber unsere Motivation war und ist, etwas zu ändern. Und wenn am Ende alles nichts hilft, dann können wir unseren Kindern zumindest mal sagen, dass wir es versucht haben. Wir haben uns zusammengetan, weil wir unsere freie Gesellschaft erhalten wollen. Wir durchleben derzeit in vielerlei Hinsicht eine massive Krise, die eine Virologin oder ein Physiker alleine nicht lösen können. Wir müssen daher interdisziplinär zusammenarbeiten und voneinander lernen, auch von anderen Ländern.
Täglich erreichen Sie unzählige Medienanfragen zum Thema No Covid. Waren Sie darauf vorbereitet?
Nun, damit mussten wir rechnen. Die Menschen sind verunsichert, was ein enormes mediales Interesse erzeugt. Zum Glück sind wir eine Gruppe aus inzwischen 14 Personen, die sich gegenseitig unterstützen. Das ist wichtig, damit in dem Trubel die Familie nicht völlig auf der Strecke bleibt. Ich selbst empfinde die Präsenz in den Medien mitunter als anstrengend und versuche mich daher aus dem ganz großen Rummel herauszuhalten. Da sind andere deutlich besser als ich. Außerdem hilft es mir dabei, den Fokus auf den Fortschritt in der Sache zu legen. Denn wir haben hier ein echtes Problem vor uns und unser Vorschlag braucht viel Gehirnschmalz. Man muss letztlich dort überzeugen, wo die Entscheidungen getroffen werden – sonst bleibt nichts als ein mediales Strohfeuer.